Während die Eltern das Mörderspiel ablehnten, liebten es die Halbwüchsigen. Eine Welt, in der es Mörder gab, schien einem als Kind interessanter zu sein, als die eher langweilige Welt, die die Erwachsenen im sozialdemokratischen "Modell Deutschland" (Helmut Schmidt) vorstellten. Wahrscheinlich agierte man als Kind mit diesem Spiel die üblichen diffusen Kinderängste aus. Vielleicht waren diese Ängste auch gar nicht so diffus und allgemein; vielleicht versuchte man, sich mit diesem Spiel an die diffuse Erwachsenenwelt heranzutasten, die die Großen bedeutsam verschwiegen. Die Kriegserfahrungen der Eltern zum Beispiel, über die sie nicht sprachen. Wie auch immer.
1992 führte der Verein Botschaft e.V eine Veranstaltung durch, in der es thematisch, wie zu der Zeit üblich, genreübergreifend um Fiktion, Realität und ihre wechselseitige Durchdringung ging. Botschaft e.V war ein loser Zusammenschluß von Künstlern verschiedener Sparten und anderer Interessierter; Leute allesamt, die dem Umfeld der alten westberliner off-Kultur irgendwie (in West-Berlin war vieles "irgendwie") nahestanden, die wiederum sehr lange der Hausbesetzungsbewegung der frühen 80er Jahre verbunden war. Der Verein Botschaf e.V. hatte ein denkmalgeschätztes Haus in der Leipziger Straße durch eine Hausbesetzung vor dem Abriß bewahrt. Im Umfeld der Botschaft hatte sich 1991 die Dokumentarfilmgruppe dogfilm (Tina Ellerkamp, Jörg Heitmann, Merle Kröger, Ed van Megen und Philipp Scheffner) gegründet.
Bei dieser Veranstaltung wurde jedenfalls zum ersten Mal in Berlin das Killerspiel - sozusagen eine Erwachsenenvariation des kindlichen Mörderspiels - gespielt. Das Killerspiel kam aus Holland. Seine "wahren" Ursprünge zu ermitteln, dürfte so schwierig sein, wie den Grundtext anderer "urban tales" zu finden. Die Mitspieler erhalten dabei den Auftrag, jeweils einen anderen Mitspieler "umzubringen" und sollen beim Spielen in ein produktives Zwischenreich aus Fiktion und Realität geraten. Das Spiel war ein "Fiasko", sagt der dogfilmer Jörg Heitmann. Die Mitspieler hätten es nicht ernst genug genommen. Eine Carrera-Autorennbahnwettbewerb, der in dieser Zeit im Friseur stattfand, einem kleinen Club, der sich später auf drum'n bass spezialisiert hatte und lose mit der Botschaft assoziiert war, hatte mehr teilnehmende Triebkräfte auf sich gezogen.
Das Spiel geriet in Vergessen. dogfilm beschäftigte sich mit anderen Themen, die teilweise - wie ihr Soap-Projekt von 96/97 (als dreistündiger Themenabend unter dem Titel Soap oder das Leben ist eine Seifenoper auf arte) - auch den komplizierten Bereich zwischen Realität und Fiktion thematisierten, gleichzeitig jedoch meist kommentarlos Themen behandelten, die nur vermittelt mit der Alltagswirklichkeit, in der die Filmemachergruppe lebte, zu tun hatten. "Dann wollten wir auch mal etwas über unser Umfeld machen" (Jörg Heitmann); einen Dokumentarfilm über die internationale "sozusagen frei flottierende (Künstler-) Intelligenz" (Bourdieu) Berlins also, der nach der großen Nachwendeeuphorie (Techno, berliner Clubkultur in Ostberliner-Ruinen usw.) der Boden unter den Füßen wegzubrechen drohte. Denn in dem Maße, in dem sich das wiedervereinigte Berlin "normalisiert" (daß die Stadt seit vier Jahren von einer großen Koalition regiert wird, deutet das Erstickende dieser Normalisierung an), werden die Räume kleiner, in denen sich die ungebundene, alternative Kulturszene lange Zeit entfalten konnte. Die Nischen der off-Kultur, deren Wurzeln auf die subversiven Aktionen der Situationisten und die Spaßguerillaaktivitäten der 68er zurückgehen, werden aufgespürt, um sie zu vernichten oder zu verwalten, was im allgemeinen auf das Gleiche hinausläuft.
Die klassische Form eines Interviewfilms über Protagonisten der Subkultur fanden die dogfilmer "zu langweilig". Stattdessen entschieden sie sich dafür, zehn ausgesucht spielfreudige Leute "mit hohem Spielerehrenkodex" zu einem Killerspiel einzuladen. Das Killerspiel war das "Vehikel, um über das eigene Leben zu sprechen." (Tina Ellerkamp) Den Verlauf des Spiels dokumentiertendie dogfilmer und die Mitspieler mit Diktiergeräten, Tagebuch und verschiedenen (DV und Betacam-SP, sowie Super 8 Film) Kameras.
In der Erwachsenenversion des Mörderspiels durften die Mitspieler einander nicht kennen; das Spielfeld war nicht mehr das verdunkelte Kinderzimmer, sondern die Stadt Berlin, das Spiel dauerte nicht nur eine viertel Stunde, sondern zwei Wochen und es sollte auch nicht mehr nur einen Mörder und ein Opfer geben, sondern zehn Mörder spürten ihren Opfern hinterher. Daß dabei die Privaträume der Spieler zu respektieren waren und jede Form von Gewalt verboten war, versteht sich von selbst.
Als Mitspieler fanden sich: die Videokünstlerin Akiko Hada, der Comiczeichner Max Andersson, der Musiker Alexander Christou, die Kinomacherin Cornelia Klauss, die Super-8-Männchenfilmerin Dagie Brundert, die Architekturphotografin Elisabeth Felicella, die SchauspielerInnen Barbara Philipp, Roswitha Kreil und Dieter Kölsch, der Musiker und DJ Jim Lusted, der Konzeptkünstler Klaus Weber.
Im Briefkasten oder auch in einem Schließfach erhielten die Mitspieler ihren Mordauftrag. Einen Umschlag mit dem Steckbrief ihres Opfers: Name, Adresse, Foto und Lebensgewohnheiten. Die Wahl der Waffe, mit der sie "töten" sollten, blieb ihnen überlassen. Geplante Mordanschläge mußten die Mitspieler den dogfilmern melden, die dann mit einer Kamera vor Ort waren.
Die Mitspieler entschieden sich später fär Kinderversionen von Waffen, die man aus handelsüblichen Krimis kennt: Gift (zerriebenes Aspirin in einen Drink geschüttet), Autobomben (schwarz angemalte Coladosen, die man an die Stoßstange des Opferautos bindet - wenn ich mich richtig erinnere, kam eine derartige Waffe zum ersten Mal in einem der Kalle-Blomquist-Bücher von Astrid Lindgren zum Einsatz), radioaktiv verseuchtes Material, das man unbemerkt in die Jackettasche des Opfers gleiten lassen kann (ein Päckchen mit
irgendwas drin), eine Giftspinne (aus Plastik), die einer der Mitspielerinnen im Strandbad in den Schuh gesteckt wird, ein FAX, in dem sehr einfallsreich schriftlich der Countdown für eine Bombe versteckt ist, ein todbringender Aufkleber auf einem Motorrad. Besonders einfallsreich wird die Videokünstlerin Akiko Hada um die Ecke gebracht: ihre Mörderin entführt eines ihrer geliebten Stoffhäschen. Um es vor dem Geschlachtetwerden zu retten, muß sie Harakiri begehen.
Killer.berlin.doc. ist ein vielfältig gebrochener Dokumentarfilm mit fiktiven Elementen, ein subjektiver Künstlerporträtfilm, ein selten schöner Architekturfilm über Berlin im Wandel, ein mehrstimmiges Tagebuch über zwei Wochen im Mai 1998. Ästhetisch überzeugend verbindet das Filmemacherkollektiv die verschiedenen Aufnahmetechniken (die subjektiven, tagebuchartigen S-8 und Video-Sequenzen der Mitspieler; die 'eigenen' Aufzeichnungen).
Die innovative Bildgestaltung ist herausragend und einzigartig; die fließenden übergänge zwischen dokumentarischen und fiktiven Elementen wiederholen formal die Gefühlsunsicherheit, die nicht nur die Spieler während ihres Spiels erfahren. Berlin ist hier gleichzeitig: blaustichige Traumlandschaft, Projektion unterschiedlicher Wünsche, ein Wirrwarr unterschiedlichster Architekturen. Ein am Computer entworfener, aseptischer Potsdamer Platz steht neben dem 'waste land' im Bereich der früheren Mauer. Im Spiel ordnete sich die Stadt neu. "Unmerklich verändert sich der Alltag. Es gibt die tatsächlichen Termine und die, die man sich für die Zwecke des Spiels einrichtet. Es gibt die tatsächlichen Wege und die Killerwege (...) Das ganze erscheint mir manchmal wie eine Art Verliebtheit, in die man sich künstlich hineinsteigert", sagt Roswitha Kreil. Dann stehen plötzlich erwachsene Menschen zwischen 30 und 40 im Treppenhaus eines fremden Hauses und schämen sich plötzlich für das, was sie hier tun. Die für das Spiel unabdingbare emotionale Teilnahme, führt bei den Mitspielern zuweilen zur Verdünnung ihrer Alltagswelt, zu Entwirklichungstendenzen, die umso bedrohlicher sind, als das in ihnen die sehr realen schwierigen Bedingungen der Künstlerexistenz reflektiert werden.
"Nach einem sehr ruhigen Nachmittag setzten meine Sorgen mit dem Spiel auf der Zugfahrt nach Hause wieder ein. Ich versuche, einen Weg zu finden, mit dem Spiel umzugehen, der nicht so konsumierend ist, aber es bleibt mir unmöglich, es zu durchschauen. Seit es angefangen hat, habe ich es noch nicht geschafft, mich zu konzentrieren - auch nicht darauf, was es ist, das mich stört", sagt Elizabeth Felicella irgendwann. Andere sprechen von ihrer "Ratlosigkeit" und der Schwierigkeit, das Spiel mit dem Alltag zu verbinden; von Gefühlen, die sie für ihr Opfer entwickeln und über deren Natur sie sich klarzuwerden versuchen. Die engagiert betriebene Zweckfreiheit des Spielens korresponiert mit der Angst vor der eigenen gesellschaftlichen Bedeutungslosigkeit, unter der auch das Heer der berliner Arbeitslosen (etwa 16%) leidet. In dem Maße, in dem sich die Mitspieler in das Spiel hineinsteigern, stellen sie ihre alltägliche Existenz in Frage. Auch wer im Spiel verfolgt wird, hat das Gefühl, verfolgt zu werden.
"I am still not doing anything useful", sagt der Comiczeichner Max Andersson irgendwann. "I am being lazy. I drink too much beer. I sleep until twelve and then I just sit around in a zombielike state. No clues, very few ideas. I think I fucked up my career as a detective."
Einige der Mitspieler wollen gar nicht mehr aufhören und versuchen auch noch als Geist weiterzumorden; andere entziehen sich dem Spiel. Die Super-Acht-Queen Dagie Brundert wird von ihrer Mörderin Elizabeth Felicella zu einem Duell am Sowjetischen Ehrenmal in Treptow aufgefordert, weil Elisabeth das Versteckspiel leid ist; Jim Lusted besucht Elizabeth, um den Auftrag "aus Respekt" vor seinem Opfer zurückzugeben. "Wir standen auf dem Balkon und haben eine Weile über London, New York, das Spiel und eine gemeinsame Unfähigkeit gesprochen, unsere Alltagsroutine zu planen. Jim sprach in einer Art, die sehr klar und auch sehr persönlich war", sagt Elizabeth Felicella.
Es mag seltsam, anstößig, vieleicht naiv erscheinen, ein Killerspiel an dem Ort zu spielen, von dem die Judenvernichtung ausging. Doch wer in Berlin lebt, lebt auf kontaminiertem Boden und spielt auch auf diesem Boden. Ist es anstößig, auf diesem Boden zu spielen, während es den Notwendigkeiten der alltäglichen Existenz geschuldet, also zu entschuldigen wäre, auf diesem Boden zu arbeiten? In einer Szene wird eine "Zielperson" beim Besuch einer Lesung auf dem jüdischen Friedhof in Berlin-Mitte observiert. Mit der Lesung reagierten verschiedene Schauspieler auf mehrere Anschläge, die auf ein Denkmal auf dem Friedhof verübt worden waren. Das ist auch Teil des Alltags, von dem der Film spricht, wie die Bilder vom Besuch Clintons anläßlich des 50sten Geburtstags der Luftbrücke, ein Besuch bei der Trabrennbahn Hoppegarten oder die LIVE-übertragung des deutschen Beitrags beim alljährlichen europäischen Schlagerwettbewerb. Das übertriebene Pathos, mit dem Guildo Horn sein "Piep, piep, piep - ich hab euch lieb!" sang, die Fake-Gefühle, die der Sänger in Deutschland mobilisieren konnte, korrespondiert dabei mit den künstlichen Gefühlen der Mitspieler, die sich so täuschend echt anfühlen, mit der Drogenbegeisterung der berliner Technoszene, mit der aktionistischen Kunst-Partei "chance2000", die der Filmer und Theaterregisseur Chistoph Schlingensief im Frühling '98 unter dem Motto "Bekenne, daß es dich gibt" gründete, mit dem Heer der berliner Arbeitslosen (in Kreuzberg: 30%), dem die Bestimmungsmöglichkeit über das eigene Leben entzogen wird. Die Simulationen verschiedener Ordnung, die Versuchsanordnungen, die killer.berlin.doc. aufbaut, finden ihre Entsprechungen in der alltäglichen Lebenswelt, die einem im Berlin Ende der 90er Jahre begegnen.
"Es fällt einem immer wieder auf, daß man in einer enorm großen, fast irrealen Seifenblase lebt und das ist hier irgendwo unser aller Leben und das ist für uns normal und das sind viele Leute, die hier so leben", sagt Barbara Philipp.
"Indem das Kind aus der Passivität des Erlebens in die Aktivität des Spielens übergeht, fügt es einem Spielgefährten das Unangenehme zu, das ihm selbst widerfahren war, und rächt sich so an der Person dieses Stellvertreters", heißt es bei Freud ("Jenseits des Lustprinzips"). Vielleicht versucht die Inszenierung auch Rache zu nehmen an der urbanen Welt, die sie inszeniert.